Bielefeld, Neustädter Marienkirche

Sonntag, 21. Juli 2024, 18.00 Uhr

 Orgelkonzert

 Hommage à Anton Bruckner und Josef Gabriel Rheinberger

 

Programm

Anton Bruckner                               Ouvertüre g-Moll WAB 98 (1863)

(1824–1896)                                       (Bearbeitung für Orgel von Rudolf Innig, 2018)    

 

Josef Gabriel Rheinberger             Vision (1888)                                                           

(1839 - 1901)                                   aus Zwölf Charakterstücke für die Orgel op. 156

 

Otto Kitzler                                    Trauermusik Dem Andenken Anton Bruckners

(1834-1915)                                     für großes Orchester (1905)  

                                                      Bearbeitung für Orgel von Rudolf Innig, 2022

 

Josef Gabriel Rheinberger            Sonate F – Dur op. 196 (1901)                               

(1839 – 1901)                                  Zur Friedensfeier

                                                      Präludium

                                                      Intermezzo

                                                      Pastorale

                                                       Finale

Rudolf Innig, Orgel

(www.rudolf-innig.de) 

 

Gedanken zur Musik

Jahrzehntelang waren sie Kollegen als Lehrer für Harmonielehre und Kontrapunkt an den Konservatorien in Wien und München: Anton Bruckner von 1868-1894, Josef Gabriel Rheinberger von 1867-1891. Insbesondere Rheinberger galt als einer der angesehensten Kompositionslehrer seiner Zeit: Rund 600 (fast ausschließlich männliche) Studenten absolvierten in Gruppen den dreijährigen Unterricht bei ihm, darunter allein etwa 60 aus den USA. Lehrinhalte waren vor allem kontrapunktische Techniken, Fugen und Kanons.

Beiden wurde im Laufe ihrer langjährigen Unterrichtstätigkeit zunehmend bewusst, dass die von ihnen gelehrten Inhalte sich nicht mehr im Einklang mit der zeitgenössischen Musikentwicklung befanden: Richard Wagners Musikdramen, die sinfonischen Werke von Hector Berlioz oder Franz Liszt hatten mit ihrer kühnen Harmonik und ihrer neuartigen Instrumentierungskunst die Strukturen und die 'Sprache' der Musik verändert. An Stelle der Beherrschung eines verbindlichen Kanons von Kompositionsregeln und -techniken traten nun zunehmend schöpferische Originalität und Individualität. Anton Bruckner drückte das so aus: "Hier in der Akademie muss alles ordentlich zugehen, aber wenn jemand kommt und zeigt mir ein solches Stück, dann schmeiß ich ihn raus."

In seinem Bemühen, das Komponieren sinfonischer Musik zu erlernen, hatte sich Anton Bruckner 1861 an seinen (zehn Jahre jüngeren!) Freund, den Linzer Kapellmeister Otto Kitzler gewandt, der ihm anhand der kurz zuvor veröffentlichten Kompositionslehre von Johann Christian Lobe das Studium der Sonatform (wie Bruckner sie nannte) vermittelte. Die 1863 entstandene Ouvertüre g-Moll orientiert sich an ihrer - von Ludwig van Beethoven geprägten - traditionellen Form mit Exposition, Durchführung und Reprise (hier auch mit einer langsamen Einleitung). Aber schon der erste Sonatensatz des zu dieser Zeit bereits 38jährigen Komponisten zielt abweichend von dieser Tradition vor allem auf das Ende der Ouvertüre, an dem überraschend das Hauptthema in neuer Klanggestalt erscheint.

Josef Gabriel Rheinberger ist neben Felix Mendelssohn im 19. Jahrhundert vor allem durch seine zwanzig (!) Orgelsonaten der bedeutendste Komponist von Orgelmusik im deutschsprachigen Raum. Zudem kann man ihn als 'Erfinder' des Charakterstückes für Orgel bezeichnen. Kleine, meist lyrische Genrestücke in dreiteiliger Liedform, waren vor allem in der Klaviermusik beliebt: So ist etwa die Träumerei aus den Kinderszenen op. 15 von Robert Schumann das bekannteste Charakterstück aller Zeiten. Vier umfangreiche Orgelzyklen mit jeweils zwölf Sätzen komponierte Rheinberger in dieser Art.

Sein Orgelstück Vision orientiert sich an der avancierten Tonsprache der späten Werke Richard Wagners: Tief- oder hochalterierte Harmonien, die bis zu Siebenklängen reichen, bewegen sich mitunter an den Grenzen der Dur-Moll-Tonalität, ohne sie dennoch in Frage zu stellen.

Otto Kitzlers dreiteilige Trauermusik (Adagio – Andante con moto – Adagio) verwendet keine direkten Zitate aus Bruckners sinfonischen Werken, übernimmt jedoch typische Stilelemente der sinfonischen Musik Bruckners: kurze 'Impulsmotive' mit ihrer Tendenz zur Sequenzierung, die (von Richard Wagner inspirierte) avancierte Alterationsharmonik mit einer Vorliebe für trugschlussartige Wendungen in entfernte Terzverwandtschaften sowie die Neigung zu Orgelpunkten oder Generalpausen, alles Techniken, die Anton Bruckner als begnadetem Improvisator auf der Orgel seit seiner Jugend vertraut waren.

Rheinbergers abschließende zwanzigste Orgelsonate F–Dur op. 196 ist seine letzte große Komposition. Sie entstand im Juni 1901, nur wenige Monate vor seinem Tod am 25. November des Jahres. Anders als im Spätwerk von Johannes Brahms oder Gustav Mahler ist in Rheinbergers Musik nichts von Melancholie oder Resignation zu spüren: Seine letzte Orgelsonate hat einen hymnisch feierlichen Charakter, was vermutlich den Herausgeber zu dem hinzugefügten Untertitel Zur Friedensfeier veranlasst hat.

Allen vier Sätzen ist ihre großflächige Architektur gemeinsam, Rheinbergers letzte Orgelsonate hat - wie auch die späten Sinfonien seines Wiener Kollegen - 'viel Zeit'. Der erste ausgedehnte Sonatensatz (Präludium) wird in seiner Form bestimmt von den beiden in Dynamik und Charakter verschiedenen Themen in einem oft komplizierten vier – bis fünfstimmigen Satz. Vorsichtig, wie im Traum, beginnt der zweite Satz (Intermezzo) im Pianissimo und in feierlichem Des–Dur seinen choralartigen Gesang. Der dritte Satz (Pastorale) in A–Dur erinnert dagegen mit seinem heiteren, überwiegend kammermusikalischen Charakter an 'Musik der Vergangenheit', er wirkt wie ein Menuett aus einer Sinfonie Haydns oder Mozarts. Orchestral dagegen ist das Rondo-Finale mit seinen charakteristisch verschiedenen Themen, die in Analogie zum sinfonischen Orchester Streicher-, Holz– und Blechbläserklänge assoziieren. Die Coda zitiert abschließend das Hauptthema des ersten Satzes, ein kurzer Rückblick auf ein vollendetes Werk und auf ein 'geglücktes' Leben.                                                                                                       (Dr. Rudolf Innig)