Anton Bruckner - Sinfonie f-Moll (WAB 99)
Anders als heute war Anton Bruckner zu seiner Zeit nicht als Symphoniker[1], sondern vor allem als Organist bekannt. Mit 21 Jahren (1845) wurde er zum Stiftsorganisten im Augustinerkloster in St. Florian ernannt, wo er zuvor nach dem frühen Tod seines Vaters 1837 als Chorknabe aufgenommen worden war. Im Jahre 1855 wurde er Organist am Dom in Linz und schließlich 1869 mit dem Titel 'k.u.k. Hoforganist' in Wien. Internationale Anerkennung erlangte er vor allem durch seine Improvisationen auf der Orgel, bei denen er oft mit Fantasien u.a. über Themen von Georg Friedrich Händel, Richard Wagner oder aus seinen eigenen Sinfonien glänzte. Einen Einblick, wie er solche Improvisationen anlegte, gibt eine umfangreiche Skizze aus dem Jahre 1890 anlässlich einer Hochzeit am kaiserlichen Hof, die mit einer Fantasie über das Hauptthema des letzten Satzes seiner ersten Sinfonie beginnen und in eine Fuge münden sollte, in der sich dieses Thema mit dem Halleluja von Händel und der Kaiserhymne verbindet.[2]
Seit seiner Kindheit war Anton Bruckner mit der großen Orgel in der Stiftskirche St. Florian vertraut, mit der er sich zeit seines Lebens -und darüber hinaus[3]- verbunden fühlte. Mit 78 Registern und vier Manualen war sie damals die bedeutendste in der ganzen Donaumonarchie. Für 'sein' Instrument schrieb Anton Bruckner jedoch nur wenige, unbedeutende Stücke, seine monumentalen Sinfonien widmete er dem sinfonischen Orchester, nachdem er mit immensem Fleiß die dazu erforderliche Kompositions- und Instrumentationstechnik erlernt hatte.
Bereits als Stiftsorganist in St. Florian hatte Bruckner über 30 Werke geistlicher Musik für Soli, Chor und Orchester komponiert, u.a. ein Magnificat, ein Requiem und eine Missa solemnis. Im Jahre 1855 begann er trotz seiner zeitintensiven Organistentätigkeit in Linz ein 'Fernstudium' in Harmonielehre und Kontrapunkt bei dem angesehenen Wiener Theoretiker Simon Sechter, das insgesamt sechs Jahre dauerte. Kurz danach, im Dezember 1861, nahm Bruckner bei dem 10 Jahre jüngeren Linzer Theaterkapellmeister Otto Kitzler weitere Studien in der freien Komposition auf, die ihm die entscheidenden Impulse zur Komposition sinfonischer Orchesterwerke vermittelten. Das erst 2014 veröffentliche Kitzler-Studienbuch[4] zeichnet diese Entwicklung auf 326 Seiten mit handschriftlichen Übungen, Skizzen und Kompositionen Bruckners nach. Am Anfang standen (basierend auf den Kompositions- und Formenlehren von E. F. Richter, J. Chr. Lobe und A. B. Marx) Übungen im Periodenbau und der zwei- bzw. dreiteiligen Liedform. Es folgten Liedkompositionen, Variationssätze, eine Klaviersonate, ein Streichquartett und Studien zur Instrumentation anhand der Klaviersonate c-Moll op. 13 von Beethoven. Der zweijährige Unterricht bei dem befreundeten Kitzler endete im Frühjahr 1863 mit Bruckners ersten sinfonischen Werken, den Orchesterstücken (WAB 96 und 97). der Ouvertüre g-Moll (WAB 98) und der Sinfonie f-Moll (WAB 99). Diese Orchesterwerke erklingen auf der vorliegenden CD in einer Fassung für Orgel, verbunden mit der Intention, in diesen Werken die Spuren des vom Orgelspiel und Orgelklang her inspirierten Schöpfers aufzuzeigen.
Am 13. Februar 1863 fand in Linz die Erstaufführung des Tannhäuser unter der Leitung Otto Kitzler statt, an der Bruckner mit der Einstudierung des Pilgerchores beteiligt war. Zwei Tage später begann er mit der Instrumentierung des ersten Satzes der Sinfonie f-Moll (WAB 99), zu der er seit Anfang Januar auf über 30 Seiten Skizzen zu allen Sätzen dieser Sinfonie in seinem Studienbuch notiert hatte. Allein die 28 Themenentwürfe zum ersten Satz zeigen, mit welchem Elan Bruckner an diese Sinfonie heranging, die zugleich Ziel und Abschluss seiner Studien bei Otto Kitzler war.[5] Dies erklärt auch, dass er trotz seiner zeitraubenden Organistentätigkeit am Dom in Linz bereits Ende Mai die Arbeit an der Sinfonie beendet hatte. Umso mehr war er enttäuscht, als Otto Kitzler sie als nicht besonders inspiriert bezeichnete[6], eine Beurteilung, die aus heutiger Sicht als völlig ungerechtfertigt erscheint. Dennoch bemühte Anton Bruckner sich mehrere Jahre lang um eine Aufführung, die aber nie zustande kommen sollte. Später gliederte er sie (wie auch die 1869 fertiggestellte Sinfonie d-Moll, die er ursprünglich als seine zweite Sinfonie bezeichnet hatte) aus der Reihe seiner gezählten Sinfonien aus. Bei der letzten Revision seiner Werke in den frühen 1890er Jahren in Wien schrieb er über die Partitur sogar Schularbeit. Das ist die Ursache dafür, dass diese Sinfonie heute als Studiensinfonie bezeichnet wird und im Musikleben kaum Beachtung findet. Bei unvoreingenommener Betrachtung zeigt diese Sinfonie des bereits 39jährigen Komponisten jedoch die gleiche kompositionstechnische Souveränität wie die zwei Jahre später entstandene ersten Sinfonie c-Moll. In den Strukturen der f-Moll Sinfonie sind ebenfalls Einflüsse der Orgelimprovisation in Bruckners musikalischem Denken erkennbar.
So fällt bei den Themen des ersten Satzes die Häufung von Unregelmäßigkeiten in der Periodenbildung auf. Nirgendwo finden sich in dieser Sinfonie die für ihn so charakteristischen metrischen Ziffern, jenes spezielle 'Gerüst', mit dessen Hilfe er später die musikalische Architektur[7] seiner monumentalen Formen schuf. Das Hauptthema des ersten Satzes hat 'nur' sieben Takte, der Seitensatz (in Bruckners Terminologie Gesangsperiode) hingegen neun. Wie in der Ouvertüre ist auch hier die aus der Umkehrung des Kopfmotives gewonnene Übergangsgruppe (T. 62) nicht von 'thematischer Arbeit', sondern von sequenzierten Motivgruppen und Wiederholungsbildungen geprägt. Die in T. 146 beginnende Schlussgruppe weist mit ihren zwei verschiedenen Themen ebenfalls Unregelmäßigkeiten auf. Bruckner selbst sprach übrigens nie -anders als heute im musikwissenschaftlichen Sprachgebrauch üblich- von einem dritten Thema.
Brillanter Höhepunkt des ersten Satzes ist die Coda: Sie beginnt in T. 561 im Mezzoforte trugschlüssig mit dem Kopfmotiv und steigert sich zu einem dramatischen Fortissimo-Ausbruch des Orchesters, der in T. 602 mit einer Generalpause abbricht. Wie aus der Ferne erklingt danach in einer viertaktigen Parenthese ein Hornsolo in der Vergrößerung des eintaktigen Kopfmotives, bevor es (nun in Engführungen und Diminutionen) erneut im Fortissimo des vollen Orchesters hervorbricht und in einen mitreißenden Schluss von elementarer Wucht mündet. Ganz ähnlich hat Bruckner wenig später die Coda seiner ersten Sinfonie c-Moll gestaltet.
Andante molto lautet die Tempobezeichnung des zweiten Satzes in Es-Dur, der erste der für Bruckner so
charakteristischen, feierlich langsamen Sätze seiner Sinfonien. Beide Themen des ersten Teils (T. 1 und T. 23) werden von
Vorhaltsbildungen geprägt, wobei das erste mit seinen zögernd voranschreitenden punktierten Rhythmen und den
dreimaligen Vorhalten vor den Tönen des Es-Dur Dreiklanges die gleiche Struktur hat wie die Cellokantilene zu Beginn der
Ouvertüre. Auch der kontrastierende Mittelteil in g-Moll (T. 47) wird von ähnlichen Vorhaltsbildungen bestimmt. In der
variierten Wiederkehr des ersten Teils (T. 69) erscheint das zweite Thema nicht mehr in der Dominante, sondern in der
Tonika Es-Dur (T. 93). Die ausgedehnte Coda (ab T. 108) endet in einem verklingenden Hornsolo nochmals mit dem
dreifachen Vorhalt des Anfanges.
Die ersten Entwürfe zum Scherzo hat Bruckner bereits im Januar 1863 im Zusammenhang mit den Skizzen zum ersten Satz
notiert. Daraus entstand im April ein konzentrierter monothematischer Sonatensatz von nur 90 Takten.
Das Thema im Dreivierteltakt und mit der Tempobezeichnung Schnell erklingt anfangs wie aus der Ferne im
kammermusikalischen Dialog zwischen Holzbläsern und Streichern steigert sich dann aber zum Ende des ersten Teils in
einem sinfonischen 'Kraftausbruch' des ganzen Orchesters im Fortissimo. Hier hört man erstmals den Komponisten, der
inseinen späteren Scherzi 'mit Felsen zu würfeln' scheint. Im folgenden Trio steht die Terzenseligkeit des in den Holzbläsern
erklingenden Themas in unüberhörbarem Kontrast zu der raffinierten Asymmetrie der Satzperioden.
Auch dem Finale liegt die Sonatenform zugrunde, das Hauptthema eröffnet den Satz energisch und im Fortissimo des
Orchesters. Die Gesangsperiode, ein lyrisches Seitenthema in der Paralleltonart As-Dur (T. 60) zeichnet sich -wie schon
zuvor das Hauptthema der Ouvertüre- durch einen doppelten Kontrapunkt aus, die Schlussgruppe hat wie der erste Satz zwei
Themenbereiche (T. 92 und T. 118).
Bruckners Sinfonien haben von Anfang an einen ausgeprägten Finalcharakter, die Tendenz, Gedanken aus den früheren
Sätzen wieder aufzugreifen und kontrapunktisch miteinander zu verbinden lässt sich bereits hier finden. Die Sinfonie f-Moll ist
auf das nach F-Dur gewendete Stretta-Finale ausgerichtet, in dem Bruckner zudem einen choralartigen Gedanken aus seiner
d-Moll Messe zitiert. Auch die unvollendet gebliebene neunte Sinfonie d-Moll sollte mit einem ähnlichen Zitat schließen.
Anton Bruckner hat seine ersten Orchesterwerke zeit seines Lebens nie in einem Konzert gehört, ihre Uraufführungen fanden
erst um 1924 im Zusammenhang mit seinem 100. Geburtstag im Stift Klosterneuburg statt. Ihre Manuskripte bzw. Abschriften
sind als Digitalisisate unter Bruckner-online.at einsehbar
Etwa zur gleichen Zeit wie Anton Bruckner in Linz komponierte ein französischer Organist in Paris eine große Fantasie für
Orgel, die er Grand Pièce Symphonique nannte. César Franck wurde mit diesem Stück zum Begründer der sinfonischen
Orgelmusik in Frankreich, die in den Orgelsinfonien von Alexandre Guilmant, Charles-Marie Widor und Louis Vierne ihre
Fortsetzung und Vollendung finden sollte. Von dem fast gleichaltrigen César Franck (1822-1890) ist der Satz "Die Orgel ist
mein Orchester" überliefert, ein Satz, der auch von Anton Bruckner hätte stammen können. Im deutschsprachigen Raum ist eine ähnliche sinfonische Orgelmusik wie in
Frankreich in der zweiten Hälfte des 19. Jh. nicht entstanden. Die vorliegende CD vermittelt aber einen Eindruck davon, wie sie klingen würde, wenn Anton Bruckner ein Grand
Pièce Symphonique für Orgel komponiert hätte.
[1] Anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde durch die Universität Wien im Herbst des Jahres 1891 bat Bruckner in einem Schreiben an den Rektor ausdrücklich darum, 'als Symphoniker' geehrt zu werden.
[2] Um diese Zeit begann er sogar eine Orgelfassung des zweiten Satzes seiner neunten Sinfonie, die jedoch ebenso unvollendet blieb wie die Sinfonie selbst.
[3] Bruckners Grab befindet sich auf seinen Wunsch hin unter der Orgel der Stiftskirche in St. Florian.
[4] Musikwissenschaftlicher Verlag der internationalen Bruckner-Gesellschaft, Wien 2014
[5] Kitzler verließ am Ende der Spielzeit Linz als Kapellmeister.
[6] Otto Kitzler, Musikalische Erinnerungen, Brünn 1904
[7] eine Formulierung aus Bruckners Antrittsvorlesung an der Universität Wien am 25. 11. 1875. Nach Beendigung seiner fünften Sinfonie begann Bruckner zwischen 1876 und 1878 in einem umfangreichen Revisionsprozess seine Werke zu überarbeiten und mit Hilfe der metrischen Ziffern rhythmisch neu zu ordnen.